4. Mai 2017
Wie Neuronen und Gliazellen während der Gehirnentwicklung entstehen
ForscherInnen am IST Austria identifizieren Lgl1 als das Gen, das die Produktion von Neuronen und Gliazellen im Gehirn kontrolliert – Bisher unbekannte Funktionen des Gehirnentwicklungs-Gens geklärt
Neurone und Glia sind die Zellen, aus denen unser Gehirn besteht. Im Cortex, der Gehirnregion, die uns die Wahrnehmung, das Sprechen und das Denken ermöglicht, werden Neurone und die meisten Gliazellen aus einer bestimmten Art neuraler Stammzelle erzeugt, den sogenannten Radiärfaserglia (radial glia progenitors, RGPs). Es ist essentiell, dass keine Fehler passieren, denn Störungen während dieses Prozesses können zu Störungen der Gehirnentwicklung führen. Dazu zählt etwa die Mikrozephalie, eine Fehlbildung, durch die der Kopf und der Cortex eines Babys signifikant kleiner ist als bei anderen Babys. Aber wie wird die Entstehung von Neuronen und Gliazellen kontrolliert? Simon Hippenmeyer und seine Forschungsgruppe am Institute of Science and Technology Austria (IST Austria), darunter Erstautor Robert Beattie, sowie KollegInnen an der North Carolina State University und dem Fred Hutchinson Cancer Research Center in den USA, fanden heraus, dass ein Gen namens Lgl1 die Produktion bestimmter Neurone im Cortex von Mäuseembryonen kontrolliert, und dass dieses Gen eine Rolle in der Produktion anderer Arten von Neuronen und Gliazellen nach der Geburt spielt. Dies ist das Ergebnis einer Studie, die heute in Neuron erscheint.
Die Produktion von Neuronen und Glia ist während der Entwicklung des Cortex streng geregelt. RGPs produzieren die Mehrheit dieser Zellen. In vorhergehenden Studien konnten Hippenmeyer und KollegInnen bereits zeigen, dass das Teilungsmuster von RGPs nicht zufällig ist. Jedes einzelne RGP produziert eine vordefinierte Einheit an Neuronen und Gliazellen in einem präzise orchestrierten Entwicklungsprogramm, wodurch sichergestellt wird, dass das Gehirn zu seiner normalen Größe heranwächst.
In der nun in Neuron erschienenen Studie widmeten sich die AutorInnen der Frage, welche Mechanismen den exakten Output der RGPs kontrollieren. Die ForscherInnen untersuchten insbesondere die Rolle des Gens Lgl1, für das eine Rolle in der Regulierung der RGP-Proliferation vorhergesagt wurde. Die genaue Rolle des Gens war bis dahin unbekannt. Hippenmeyer und KollegInnen nutzten nun die MADM Technik, kurz für Mosaic Analysis with Double Markers, um die Funktion von Lgl1 in RGPs mit einer bislang unerreichten Auflösung auf Einzelzellniveau zu entziffern.
Mithilfe von MADM eliminierten Hippenmeyer und KollegInnen Lgl1 entweder nur in einzelnen RGPs oder in allen RGPs. Gleichzeitig werden einzelne Zellen fluoreszierend visualisiert, so dass sie unter dem Mikroskop untersucht werden können. Die AutorInnen zeigen, dass Lgl1 die Entstehung von Neuronen und Gliazellen im entwickelnden Cortex auf zwei unterschiedliche Arten kontrolliert. Erstens wird die Funktion von Lgl1 für die Entstehung von Neuronen im frühen Embryo in der gesamten RGP Population gleichzeitig benötigt. Wenn die Funktion von Lgl1 in allen RGPs fehlt, aber nicht, wenn die Funktion nur in einzelnen RGP Zellen fehlt, führen dynamische Gemeinschaftseffekte zu einer Missbildung des Cortex, die dem „Double Cortex Syndrome“ ähnelt, einer schweren Hirnerkrankung des Menschen. Zweitens wird die Funktion von Lgl1 in der Entstehung von Gliazellen und Neuronen im postnatalen Gehirn „nur“ in der einzelnen Stammzelle benötigt, die gerade ein Neuron oder eine Gliazelle produziert. Diese Art der Lgl1 Genfunktion wird auch zell-autonom oder intrinsisch genannt, während die Notwendigkeit der Lgl1 Genfunktion in der gesamten Zellgemeinschaft als nicht-zell-autonom bezeichnet wird. Während also das gesamte Orchester für die Symphonie benötigt wird (die Erzeugung von Neuronen im embryonalen Cortex), braucht es nur einen Solisten für das Solo (die Produktion von Neuronen oder Gliazellen im postnatalen Gehirn).
Simon Hippenmeyer erklärt, welchen Einfluss seine Forschung auf die zukünftige Analyse der Rolle von Genen während der Entwicklung hat: „Unsere Studie macht deutlich, dass sowohl intrinsische Genfunktionen als auch gemeinschaftsbasierte Beiträge der Umwelt für die Kontrolle der Radiärfaserglia im Cortex im Speziellen, und für neurale Stammzellen im Allgemeinen wichtig sind. In zukünftigen genetischen Funktionsverlust-Experimenten wird es daher wichtig sein, die relativen Beiträge von zell-autonomen, intrinsischen Genfunktionen sowie den Einfluss der Mikroumwelt der Stammzellnische zur generellen Interpretationen der Genfunktion präzise zu analysieren.“
Simon Hippenmeyer erlangte sein Doktorat in Neurobiologie an der Universität Basel und dem Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research. Nach sechs Jahren an der Stanford University kam er 2012 an das IST Austria, wo er eine Forschungsgruppe zum Thema “Genetische Analyse der Entwicklung im zerebralen Cortex“ leitet. Das Hauptaugenmerk der Forschung in seinem Labor liegt auf der Untersuchung der zellulären, molekularen und epigenetischen Mechanismen der neuronalen Entwicklung mithilfe interdisziplinärer experimenteller Zugänge. Der Erstautor der Studie, Postdoc Robert Beattie, forscht seit 2015 in der Gruppe von Simon Hippenmeyer.
Publikation
Beattie, Robert et al.: „Mosaic Analysis with Double Markers Reveals Distinct Sequential Functions of Lgl1 in Neural Stem Cells“, DOI: 10.1016/j.neuron.2017.04.012
Weiterführende Information
Akhtar, Aslam Abbasi, Hannah Park, Joshua J. Breunig:“Lethal Giant Lineage Tracing: Mutating Locally, Acting Globally“, DOI: 10.1016/j.neuron.2017.04.030