10. Juli 2014
Das Leben als Algorithmus
Kommentar von IST Austria Professor Nick Barton in PNAS zeigt überraschende Parallelen zwischen Computerwissenschaften und Evolutionsbiologie auf
In einem Kommentar, der diese Woche in PNAS erscheint, beleuchtet Nicholas Barton, Professor am IST Austria, gemeinsam mit Sebastian Novak und Tiago Paixao, zwei Mitgliedern seiner Forschungsgruppe, den Hintergrund und die Bedeutung einer neuen Publikation über natürliche Selektion (doi:10.1073/pnas.1410107111). In der rezensierten Publikation, die ebenfalls in PNAS erscheint, zeigen Chastain et al., dass die natürliche Selektion in Populationen, in denen sich Varianten von Genen, so gennannte Allele, frei mischen (rekombinieren) können, äquivalent ist zum so genannten „multiplicative weights update algorithm“ (MWUA), einem Algorithmus, der wiederholt auch in der Computerwissenschaft, Statistik und Wirtschaft entdeckt wurde.
In jeder Generation oder Runde der Selektion wird nur die Frequenz eines Allels mit seiner relativen Fitness multipliziert, also dem Vorteil, den dieses Allel im Vergleich zu den anderen Allelen in der Population mit sich bringt. Das entspricht dem MWUA, der auch bei Fußballwetten behilflich sein kann. Um auf den Ausgang eines Spiels zu wetten, folgt man dem Rat einer Gruppe von professionellen Wettspielern. Vor jedem Spiel beachtet man den Rat aller Experten. Gleichzeitig wiegt man ab, wie sehr man auf jeden Experten hört, je nachdem, wie gut seine bisherigen Voraussagen waren. Bemerkenswerterweise ist der endgültige Wetterfolg nahe dem des Experten mit dem höchsten insgesamten Erfolg – allerdings war am Anfang nicht bekannt, wer am erfolgreichsten sein würde.
Der Kommentar betont, dass Selektion wie viele andere Prozesse auf mehrere verschiedene, mathematisch äquivalente Arten verstanden werden kann, zum Beispiel als Verbreitung von Allelfrequenzen im Lauf der Zeit oder als Verteilung von Genealogien in einem Graph anzestraler Selektion. Ähnlich kann die klassische Mechanik entweder durch die Newtonschen Gesetze oder durch das Kleinstwirkungsprinzip beschrieben werden. Computerwissenschaften und Evolutionsbiologie mögen zwar als sehr unterschiedliche Forschungsgebiete erscheinen, aber wenn die natürliche Selektion als Algorithmus, mit dem eine Population von ihrer Umgebung lernen kann, betrachtet wird, zeigen sich überraschende Parallelen. Sowohl die Evolutionsbiologie als auch die Computerwissenschaften beschäftigen sich damit, wie schnell ein Algorithmus agieren kann und wie komplex er ist. Da die theoretischen Strukturen beider Felder sehr unterschiedlich sind, sehen Barton et al. viele Möglichkeiten des Wissenstransfers. Die Analogie, die Chastain et al. zwischen MWUA und Populationsgenetik herstellen, ist dafür ein erster Schritt.