9. Februar 2021
Die ungelösten Mysterien eines alltäglichen Phänomens
Seit Jahrhunderten ringen Wissenschafter_innen um Antworten auf vermeintlich einfache Fragen zur Elektrizität.
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Was genau passiert, wenn wir einen Luftballon an unseren Haaren reiben und damit aufladen, ist weniger einfach erklärt als man meinen könnte. Obwohl sich Physiker_innen schon lange mit dem dahinterliegenden Phänomen beschäftigen, bleiben dazu noch viele Fragen offen. Scott Waitukaitis und seine Forschungsgruppe am Institute of Science and Technology (IST) Austria versuchen Erklärungen für einige dieser Rätsel der Physik zu finden.
Alle, die eine Katze besitzen, weiß, wie gerne Luftballons oder Plastikstücke am Fell der Katze kleben bleiben, oft zum Leidwesen des Tiers. Das geschieht, weil das Objekt und das Katzenhaar bei der Berührung elektrische Ladungen austauschen, wobei das eine positiv und das andere negativ geladen wird. Da sich entgegengesetzte Ladungen gegenseitig anziehen, bleiben sie aneinander haften – ein bekanntes physikalisches Phänomen, das man den triboelektrischen Effekt nennt. Man kann es am eigenen Körper spüren, wenn man einen elektrischen Schlag bekommt, nachdem man seine Füße an einem Teppich gerieben hat. In diesem Fall ist man selbst elektrisch geladen und die Ladung versucht, von einem abzufließen, indem sie sich zu einem elektrisch leitenden Gegenstand wie einem Türgriff bewegt. Die Ladung auf dem Körper ist so stark, dass sie durch die Luft springen und dabei mehrere Millimeter überwinden kann, um zu einem anderen Gegenstand in der Nähe zu gelangen. Das ist als winziger Funke spürbar und sogar sichtbar.
Schon die alten Griechen wussten von diesem Effekt, aber die Frage, wie er tatsächlich funktioniert, beschäftigt Wissenschafter_innen bis heute. Scott Waitukaitis kam ans Institute of Science and Technology (IST) Austria, um der Antwort auf diese uralte Frage ein Stück näher zu kommen: „Ich bin fasziniert von den scheinbar einfachen Alltagsphänomenen um uns herum und der dahinterliegenden Komplexität“, so der Physiker. Seine Forschung knüpft an eine lange Geschichte von umstrittenen Theorien an, die versuchen, dieses rätselhafte Phänomen zu erklären, das viele Aspekte unseres Lebens beeinflusst.
Hüpfendes Glas
Um Tribocharging besser zu verstehen, untersuchen Scott Waitukaitis und sein Team in einem ihrer Experimente den Ladungsaustausch zwischen zwei superflachen Oberflächen aus demselben Kunststoff. Dazu lassen sie die beiden Oberflächen einander in einer kontrollierten Umgebung berühren. Dabei sollte es theoretisch zu keinem Ladungsaustausch kommen– schließlich sollten die Kräfte, welche die Elektronen, Atome und andere geladene Stückchen des Materials schieben und ziehen, für die beiden einander gleichenden Oberflächen dieselben sein. Mit Hilfe eines Elektronenmikroskops fanden die Wissenschafter_innen jedoch heraus, dass winzige Wassertröpfchen von der Größe eines milliardstel Meters aus der umgebenden Luft an den Oberflächen der Objekte kondensieren. Die Oberflächen sind also nicht mehr identisch und die Symmetrie ist gebrochen, sodass Ladungen ausgetauscht werden können.
In einem anderen Experiment untersuchen die Physiker_innen, wie das wiederholte Aufprallen einer kleinen Glaskugel auf einer Glasoberfläche die Kugel auflädt. Auch hier würde man keinen Ladungsaustausch zwischen Objekten desselben Materials erwarten, aber irgendetwas bricht die Symmetrie. Die Wissenschafter_innen messen die Menge der übertragenen Ladung so genau wie möglich. Dazu bringen sie die Glaskugel mit Hilfe von Ultraschall zum Schweben. Indem sie die Schallwellen um die Kugel steuern, können sie diese in der Luft halten. Schalten sie den Ultraschall ab, fällt die Kugel auf die Glasoberfläche darunter, prallt ab und tauscht kontrolliert Ladung aus. Die Forscher_innen beobachten die Bewegung der Kugel mit einer Hochgeschwindigkeitskamera und legen ein externes elektrisches Feld an, mit dem sie den Ladungsaustausch zwischen der Glaskugel und der Glasoberfläche bei jedem Aufprall messen können, ohne sie zu berühren. Mit diesem Experiment wollen sie herausfinden, was die Symmetrie zwischen der Glaskugel und der Glasoberfläche bricht.
Vergebliche Listen
Lange bevor Hightech-Experimente wie die von Scott Waitukaitis und seinem Team überhaupt vorstellbar waren, wollten Menschen die winzigen Funken, die sie manchmal spürten, verstehen. Die ersten schriftlichen Aufzeichnungen über das Phänomen, das wir heute Tribocharging nennen, stammen aus dem antiken Griechenland und sind über zweitausend Jahre alt. Es waren diese frühen Gelehrten und ihre Experimente, die uns das moderne Wort „Elektrizität“ gaben, das von dem altgriechischen Namen für Bernstein, „electrum“, stammt. Den Bernstein verwendeten sie, um Fell, das sie daran rieben, elektrisch aufzuladen.
Im 18. Jahrhundert begannen Forscher_innen wie Michael Faraday vom Royal Institute of London, das Thema systematischer zu erforschen. Sie stellten sogenannte triboelektrische Reihen auf, in denen sie verschiedene Materialtypen auflisteten. Die Reihung basierte darauf, ob sie sich durch Reibung aneinander positiv oder negativ aufluden. Leider liefert dieser rein empirische Ansatz nur wenig physikalische Erkenntnisse darüber, warum sich Ladungen zwischen Materialien bewegen, geschweige denn, welche Teilchen ausgetauscht werden. Außerdem hängen die Ergebnisse stark von Umgebungsfaktoren wie Feuchtigkeit, Oberflächeneigenschaften oder einfach von der Art und Weise, wie sie aneinander gerieben werden, ab, sodass Forscher_innen viele verschiedene solcher Listen erstellten.
Unser Verständnis dessen, was auf atomarer Ebene vor sich geht, hat sich seit der Zeit von Faraday stark weiterentwickelt. Die Entwicklung der Quantenmechanik zu Beginn des 20. Jahrhunderts und immer präzisere Messgeräte haben es Wissenschafter_innen ermöglicht, immer tiefer in die Welt der Atome vorzudringen. So ist es ihnen gelungen, Erklärungen und Modelle zu entwickeln, die Tribocharging bei Metallen erklären, da deren Materialeigenschaften bereits gut erforscht sind. Bedeutend schwerer fällt es den Forschenden, Modelle für komplexere Materialien, wie kristalline oder amorphe Isolatoren, zu entwickeln. Zusätzlich könnten die Auswirkungen von Oxidschichten auf Metalloberflächen, wie zum Beispiel Rost, und der Einfluss von mechanischer Spannung auf den Ladungsaustausch, wie im gedehnten Gummi eines Luftballons, eine wichtige Rolle beim Tribocharging spielen.
Katzenhaar und Weltraumstaub
Tribocharging zu verstehen ist nicht nur wichtig, um zu wissen, warum genau eine Katze einen Luftballon nicht loswird oder warum man einen Schock von der Türklinke bekommt. Auch hinter gewaltigen Wetterphänomenen wie Blitzen steckt Tribocharging: In Gewitterwolken schweben Eispartikel unterschiedlicher Größe umher und stoßen aneinander, wobei sie Ladungen austauschen, obwohl sie alle aus demselben Material bestehen. Interessanterweise scheint die Größe der Teilchen zu bestimmen, welche Ladung sie erhalten. Doch, warum dies geschieht, ist noch nicht vollständig geklärt. Dieser Prozess baut eine unglaubliche Menge positiver und negativer Ladung in verschiedenen Teilen der Wolken auf, die sich dann durch Blitze dazwischen entlädt. Im Wesentlichen ist es dasselbe wie der winzige Funke, den man spürt, wenn sich der eigene Körper an einer Türklinke entlädt, aber in einem viel größeren Maßstab.
Selbst den Weltraum könnte Tribocharging mitgestalten: Planeten bilden sich aus diffusen Staubwolken um Sterne. Forscher_innen vermuten, dass diese Staubteilchen beim Zusammenstoßen Ladungen austauschen und dann aufgrund der Anziehung zwischen den Ladungen zusammenkleben. Diese Anhäufung geschieht, bis die sich bildenden Brocken groß genug sind, sodass die Schwerkraft die Ansammlung von weiterem Material übernehmen kann. Tribocharging könnte daher eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Planeten, einschließlich des unseren, spielen und uns den Boden geben, auf dem wir stehen.
Das Studium dieser Vielfalt von Tribocharging-Phänomenen gibt uns nicht nur Einblicke in die grundlegende Physik unserer alltäglichen Umgebung, sondern könnte uns eines Tages helfen, den Effekt in zukünftigen Technologien zu kontrollieren. Er könnte etwa helfen, Nanopartikel für verschiedene Anwendungen in Medizin und Technik zu erzeugen. Auch winzige Generatoren könnten damit aufgeladen werden, die Sensoren zur Erfassung von Umweltdaten und tragbare Geräte zur Überwachung der Gesundheit mit Strom versorgen. Physiker wie Scott Waitukaitis helfen mit ihrer Forschung dabei, die Grundlagen für solche zukünftigen Technologien und für das Verständnis alltäglicher Phänomene zu etablieren.