4. Dezember 2015
Strategien zur Fehlervermeidung bei Zellen
Gasper Tkačik und Team präsentieren eine neue Hypothese in der Fachzeitschrift Physical Review Letters
Zellen können dynamisch auf Umweltsignale reagieren, indem sie entsprechende Gene an- oder abschalten. Das zuständige „Kontrollsystem“, das entscheidet, welche Gene zu welchem Zeitpunkt aktiviert werden, ist vorrangig vom Zusammenspiel zwischen bestimmten Proteinen, den sogenannten Transkriptionsfaktoren (TF) und der regulatorischen DNA-Sequenz abhängig. Dieses System ist insbesondere bei multizellulären Organismen hochkomplex und erfordert, dass die jeweils korrekte Kombination aus TF-Molekülen an genau definierte Stellen des DNA-Strangs bindet. Interessanterweise sind aber ausgerechnet bei Mehrzellern, die im Vergleich zu Bakterienzellen eine viel größere Anzahl von Genen steuern müssen, die Transkriptionsfaktoren weniger spezifisch ausgeprägt und binden an viele auch ungeeignete Stellen im Genom. Wie gelingt es diesen Molekülen daher, zuverlässig das richtige Gen zu aktivieren, und dabei nicht versehentlich auch andere anzuschalten?
Die bislang angenommenen Modelle zur Erklärung der Genregulation basieren auf der Annahme eines “thermodynamischen Gleichgewichts”, in welchem die Interaktionen zwischen den Transkriptionsfaktoren und der DNA eine einfache theoretische Form annehmen. Ergebnisse aus Experimenten mit bakteriellen Zellen unterstützen diese Erklärungsmodelle. Was sie jedoch nicht berücksichtigen ist die Tatsache, dass die anscheinend geringe Genauigkeit der TF-Moleküle bei multizellulären Organismen auch zu einer falschen Aktivierung von genetischer Information führen könnte. Dies würde nämlich zu unerwünschten Interaktionen mit verheerenden Folgen für die Zelle führen; in der Fachsprache wird das unerwünschter Crosstalk genannt.
Gasper Tkačik, Assistant Professor am IST Austria, und die Doktoratsstudierenden Sarah Cepeda-Humerez und Georg Rieckh, beleuchten dieses Szenario in ihrem Artikel, der am 4. Dezember 2015 in der Fachzeitschrift Physical Review Letters erschienen ist. Sie untersuchen darin die Bedeutung und Auswirkungen von Crosstalk und schlagen ein alternatives Modell zur Fehlervermeidung bei der Genaktivierung vor. In ihrer Arbeit erweitern sie das Konzept des sogenannten „kinetic proofreading“, das aus den 70er Jahren stammt. Dabei geht es um einen komplexen Reparaturmechanismus, bei dem spezielle Enzyme aus einer großen Menge einander ähnlicher Substrate nur die jeweils korrekten auswählen, um mit ihnen eine Reaktion einzugehen. Dieser Mechanismus trug auch wesentlich zum Verständnis der fantastischen Fähigkeit der Zellen bei, ihre DNA im Zuge der Zellteilung mit extremer Genauigkeit zu replizieren. Wenn nun Proofreading (wörtlich: Korrekturlesen) auf die Genregulation angewendet wird, führt das zu exakteren Resultaten, und funktioniert zudem auch in jenen Fällen, wo nur eine geringe Konzentration von TF-Molekülen vorhanden ist. Allerdings hat die höhere Genauigkeit auch ihren Preis: die Zelle muss mehr Energie investieren, und es erfordert mehr Zeit, um ein Gen zu aktivieren.
Dieser Kompromiss zwischen Schnelligkeit und Genauigkeit beim Proofreading wurde bereits erforscht. Tkačik und KollegInnen gehen aber in ihrem jüngst erschienen Artikel einen Schritt weiter und fügen ein stochastisches Element hinzu: Ihre Hypothese lautet, dass zwar durch Proofreading eine größere Genauigkeit erreicht wird, dass an diesen Reaktionen aber nur einige wenige Moleküle beteiligt sind, was zu einer größeren Variabilität bei der Genexpression führt. Es ist daher unklar, ob der erwartete Nutzen, also eine Verringerung des Crosstalks als positiver Effekt des Proofreadings, nicht von einem gleichzeitigen Anstieg von Variabilität zunichte gemacht würde. Die AutorInnen fanden durch Berechnung der optimalen Strategie für die Zelle die Bestätigung, dass der Mechanismus des Proofreading eine enorme Verbesserung darstellt – im Gegensatz zur Genregulation durch ein thermodynamisches Gleichgewicht.
Die AutorInnen können zwar die Existenz eines Gleichgewichtssystems, das den Crosstalk in der Genregulation multizellulärer Organismen ausreichend unterdrückt, theoretisch nicht ausschließen. Ihre Ergebnisse legen jedoch nahe, dass ein solches Gleichgewichtssystem, sollte es tatsächlich existieren, in keinem Fall einfach ist. In ihrer Publikation schlagen sie eine alternative Hypothese zur Lösung des Crosstalk-Problems vor; die Regulation von genetischer Transkription würde demnach auf den Mechanismus des Proofreading zurückgreifen und somit nicht nur aus Reaktionen im thermodynamischen Gleichgewicht bestehen.
In ihrer Studie präsentieren die AutorInnen indirekte Beweise für ein derartiges System und regen konkrete experimentelle Überprüfungen an, um die bislang geltende Annahme in Bezug auf Genregulation kritisch zu hinterfragen.