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22. Juni 2021

Fortschritt bei der genetischen Analyse von Mäusen

96% des Mausgenoms für hochauflösende Einzelzellanalyse zugänglich - MADM-Technologie in neuer Ressource erweitert; Veröffentlichung in Cell Reports

Um zu verstehen, welche Rolle ein Gen in Entwicklung, Degeneration und Krankheit spielt, nutzen BiologInnen seit hundert Jahren einen Trick der Natur: Während das Genom in allen Zellen eines Organismus prinzipiell gleich ist, können in einzelnen Zellen Mutationen auftreten. Durch diese Mutationen unterscheidet sich eine Zelle von ihren Nachbarn, und der Organismus bildet ein „genetisches Mosaik”. Nun hat Simon Hippenmeyer, Professor am Institute of Science and Technology Austria (IST Austria), mit seiner Gruppe und in Zusammenarbeit mit Thomas Rülicke, emeritierter Professor an der Universität für Veterinärmedizin in Wien, sowie mit ForscherInnen in den USA die genetische Mosaikanalyse weiterentwickelt. Sie machen fast alle Gene im Mausgenom für die genetische Mosaikanalyse in einer Zelle zugänglich. Ihre Ressource, eine genomweite Bibliothek von MADM-Mäusen für die genetische Mosaikanalyse auf Einzelzell-Ebene, wurde am 22. Juni im Fachjournal Cell Reports veröffentlicht. 

Individuen, die ein „genetisches Mosaik“ bilden, also Zellen mit unterschiedlichen Genotypen enthalten, kommen bei mehrzelligen Organismen natürlich vor. Beim Menschen ist die Entwicklung von Krebs – wobei eine Zelle eine Mutation erwirbt, die es ihr erlaubt, sich zu vermehren, während andere Zellen dies nicht tun – ein Paradebeispiel für ein genetisches Mosaik. Umgekehrt können genetische Mosaike aber auch genutzt werden, um die Entstehung von Krankheiten zu untersuchen und zu verstehen.

Eine häufige Laune der Natur, nützlich zum Verständnis von Genen

Ein experimenteller genetischer Mosaik-Ansatz ist MADM (Mosaic Analysis with Double Makers). Bei dieser Methode werden Gene in einzelnen Zellen mutiert und die mutierten Zellen gleichzeitig in fluoreszierenden Farben markiert. „MADM ist eine Markierungstechnologie, mit der wir im Prinzip Zellen markieren können, in denen jedes für uns interessante Gen mutiert sein kann, und zwar in jedem Organ”, erklärt Erstautor Simon Hippenmeyer. Da das Gen in einer einzelnen Zelle verändert wird, während die übrigen Zellen „normal” bleiben, können die WissenschaftlerInnen verfolgen, was mit der mutierten Zelle passiert und so Einblicke in die Rolle und Funktion des mutierten Gens gewinnen. Dieser Ansatz ist besonders wertvoll bei essenziellen Genen: Die Mutation eines essenziellen Gens in allen Zellen eines Organismus würde die Gesundheit und Lebensfähigkeit des Organismus beeinträchtigen. Wird das Gen jedoch in nur wenigen ausgewählten Zellen mutiert, ist der Organismus selbst nicht betroffen. Trotzdem können die WissenschaftlerInnen auf Einzelzell-Ebene verfolgen, was mit den wenigen mutierten Zellen geschieht und ihre Morphologie, Entwicklung und Funktion beobachten.

Mammary Gland Lactating M19
Zellen in der Brustdrüse, markiert mit MADM.
(c) Nicole Amberg / IST Austria
Heart cells labeled with MADM
Herzzellen, mit MADM markiert.
(c) Simon Hippenmeyer / IST Austria

Bisher konnten mit der MADM-Technik nur etwa 25 Prozent der Gene im Mausgenom mutiert und verfolgt werden, da die MADM-Technik auf drei der Mäuse-Chromosome beschränkt war. Jetzt haben Hippenmeyer und seine Gruppe am IST Austria diese Möglichkeit dramatisch erweitert. Die Gruppe hat die für die MADM-Technik erforderliche „MADM-Markierungskassette” erfolgreich auf allen Mäusechromosomen platziert (außer auf den Geschlechtschromosomen). Nun können mehr als 96% der Gene mit MADM auf Einzelzellebene mutiert und verfolgt werden. „Wir können jetzt fast jedes Gen der Maus einfach manipulieren und jedes Gen einer hochauflösenden, phänotypischen Genmosaikanalyse unterziehen”, erklärt Hippenmeyer.

Neue Wege für die Krebsforschung

Hippenmeyer erwartet, dass diese Ressource einen Schub für die Erforschung von Krankheiten und allgemeinen Entwicklungsmechanismen bedeutet. „Jetzt können wir Gene untersuchen, die mit Krankheiten assoziiert sind, die durch eine einzige mutierte Zelle entstehen. Krebs ist das Paradebeispiel dafür. Mit unserer Ressource kann systematisch jedes einzelne bekannte Tumorsuppressor-Gen und seine Rolle bei der Krebsentstehung und -evolution untersucht werden, auch in Kombination mit anderen Mutationen.” In den letzten Jahren haben ForscherInnen MADM für mehrere Krebsstudien eingesetzt, unter anderem für das Screening nach Wirkstoff-Zielen. „Unsere MADM-Bibliothek ist nicht nur eine Möglichkeit, den Krankheitsverlauf zu analysieren, sondern bietet auch eine Plattform für die Entdeckung von Medikamenten und Wirkstoffzielen”, fügt Hippenmeyer hinzu. „Dies ist nicht auf Krebs beschränkt: MADM kann auch verwendet werden, um Krankheiten in vielen Kontexten zu untersuchen und zu verstehen. Darunter fallen auch Störungen der neuronalen Entwicklung sowie andere Gehirnerkrankungen, die das Hauptinteresse der Hippenmeyer-Gruppe sind.”

In ihrer Studie nutzten Hippenmeyer und seine Gruppe die neue Ressource, um das Anwendungsspektrum von MADM zu erweitern und ein faszinierendes Problem in der Biologie zu beleuchten. Sie fanden Hinweise darauf, dass die Chromosomensegregation während der asymmetrischen Zellteilung einem nicht zufälligen Muster folgt. „Unsere Ergebnisse zeigen zum ersten Mal in vivo, dass die Art und Weise, wie sich die elterlichen Chromosomen während der Stammzellteilung segregieren, das zelluläre Schicksal der entstehenden Tochterzellen beeinflussen könnte. In einem breiteren Kontext sind diese Erkenntnisse relevant für unser allgemeines Verständnis der Stammzellbiologie und vielleicht auch für die Mechanismen der Krebsentstehung.”

In Zukunft wird der Neurowissenschaftler Hippenmeyer die erweiterten Möglichkeiten von MADM nutzen, um das Verhalten von Stammzellen während der Gehirnentwicklung zu untersuchen. Ein Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Mechanismen, die dafür sorgen, dass sich Gehirne in der richtigen Größe entwickeln. Beim Menschen sind Störungen der Gehirngröße, wie Mikro- und Makroenzephalie, mit Epilepsie und geistiger Behinderung verbunden. „Wir können nun fragen, was in einer Stammzelle schief läuft, so dass sich das Gehirn zu groß oder zu klein entwickelt. Wir gehen davon aus, dass unsere Ergebnisse in Zukunft auch eine Grundlage für die stammzellbasierte Reparatur und Regeneration des Gehirns bilden können”.

Publikation:

Contreras, Amberg, Davaatseren, Hansen, Sonntag, Andersen, Bernthaler, Streicher, Heger, Johnson, Schwarz, Luo, Rülicke & Hippenmeyer. 2021. A Genome-wide Library of MADM Mice for Single-Cell Genetic Mosaic Analysis. Cell Reports. DOI: 10.1016/j.celrep.2021.109274

Projektförderung:

Diese Arbeit wurde unterstützt durch Subventionen der National Institutes of Health (R01-NS050580; F32MH096361), dem FWF Firnberg-Programm (T 1031), dem DOC Fellowship (24812) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, IST Austria institutional funds, dem Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF SFB F78); das People-Programm (Marie Curie Actions) des Siebten Rahmenprogramms der Europäischen Union (RP7/2007-2013) im Rahmen der REA-Finanzhilfevereinbarung Nr. 618444 und der Europäische Forschungsrat (ERC) im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizon 2020 der Europäischen Union (Zuschussvereinbarung Nr. 725780 LinPro).

Information zu Tierversuchen:

Um ganzheitlich zu verstehen, wie Gene während der Entwicklung eines Organs (z.B. des Gehirns) agieren, ist es wichtig, ihre Funktion an Mäusen in vivo zu untersuchen. Andere Methoden, wie In-Vitro- oder In-Silico-Modelle, können nicht als Alternativen dienen. Die Tiere wurden nach den strengen Vorschriften des österreichischen Rechts aufgezogen, gehalten, behandelt und eingeschläfert. Experimentelle Verfahren wurden von den institutionellen Ethik- und Tierschutzkommissionen des IST Austria, der Stanford University und der Veterinärmedizinischen Universität Wien in Übereinstimmung mit den Richtlinien guter wissenschaftlicher Praxis und der nationalen Gesetzgebung diskutiert und genehmigt.



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