3. Oktober 2022
MorphOMICs: Die verborgene Bedeutung von Mikroglia-Formen
Neuartige neurowissenschaftliche Methode enthüllt Korrelationen zwischen den Formen von Mikrogliazellen
Die Komplexität des Gehirns zu begreifen, ist eine der wichtigsten Aufgaben der Wissenschaft. Um seine Funktion und Anpassung bei Beeinträchtigung oder Krankheit zu verstehen, wenden sich Neurowissenschafter:innen an Mikrogliazellen. Nun hat ein internationales Team von Wissenschafter:innen der Siegert Gruppe am Institute of Science and Technology Austria MorphOMICs entwickelt: eine bahnbrechende datengesteuerte Methode, die eine Karte enthüllt, welche die Auswirkungen von Hirnregion, Geschlecht und Krankheitsverlauf auf die Mikroglia zeigt – und zwar indem man deren Form betrachtet.
Mikrogliazellen sind für das Gehirn der sogenannte Kanarienvogel in der Kohlemine. Früher nahmen Bergleute Kanarienvögel mit in die Kohlegrube, da sie viel empfindlicher als Menschen auf das tödliche Kohlenmonoxid unter Tag reagieren. Die Vögel reagierten zuerst und warnten so die Bergleute vor tödlichen Gaskonzentrationen. Analog dazu sind die Mikroglia die ersten, die auf alles reagieren, was im Gehirn passiert. Sie sind beteiligt an der Alzheimer-Krankheit, an Gehirnentwicklungsstörungen, Migräne und sogar an psychischen Erkrankungen. Die Frage, wie wir ihre Reaktion frühzeitig, d. h. vor dem Auftreten neurologischer Symptome, erkennen können, ist ein bedeutendes Thema der laufenden neurowissenschaftlichen Forschung.
„Sobald man Mikroglia sieht, ist man fasziniert, wie seltsam sie aussehen!“ Der statistische Physiker Ryan John Cubero, Postdoc in der Siegert Gruppe am Institute of Science and Technology Austria (ISTA), erklärt warum: „Die Form der Mikroglia enthält Informationen darüber, was sie tun. Die Art und Weise, wie sie aussehen – ihre Morphologie – ist im Grunde eine Signatur ihrer Funktion. Bis jetzt gab es keine geeignete Methode, um dies zu untersuchen!“
Tatsächlich ist die übliche Methode zur Untersuchung der Mikroglia-Morphologie, die so genannte Morphometrie, unzureichend. „Klassischerweise werden Mikroglia in zwei Funktionszustände eingeteilt: den Überwachungszustand, in dem sie die lokale Umgebung überprüfen, wenn etwas nicht in Ordnung ist, und den aktivierten Zustand, in dem sie schädliche Stoffe in einem Prozess namens Phagozytose verzehren“, erklärt die Neurowissenschafterin und Postdoc Gloria Colombo, Erstautorin einer kürzlich in Nature Neuroscience veröffentlichten Arbeit. „In Wirklichkeit sind diese beiden Zustände jedoch nur Extremwerte in einem breiten Spektrum von Zwischenzuständen, die mit der herkömmlichen Morphometrie nicht erfasst werden. Unsere Methode schließt diese wichtige Lücke.“ Mit MorphOMICs stellt das Team ein leistungsfähiges Instrument zur Verfügung, um den Funktionszustand von Mikroglia zu erfassen. Im Rahmen ihrer Veröffentlichung in Nature Neuroscience wurde MorphOMICs auch gleich eingesetzt. Bei der Umsetzung fanden sie heraus, dass sich die Mikroglia in den Gehirnen erwachsener männlicher und weiblicher Mäuse unterscheiden. Diese Unterschiede sind noch ausgeprägter während der frühen Entwicklung und erneut während der Alzheimer-Krankheit.
Ein interdisziplinärer Erfolg
Aus früheren Arbeiten wussten die Wissenschafter:innen, dass Ketamin – ein Narkosemittel – dramatische Auswirkungen auf das Gehirn hat. Die Mikroglia beginnt plötzlich, eine Struktur zu entfernen, die die neuronalen Verbindungen des Gehirns stabilisiert und es damit in einen Zustand hoher Plastizität zurückversetzt, wie er in jüngeren Gehirnen zu beobachten ist. „Als wir uns die Formen der Mikroglia ansahen, konnten wir zunächst keine morphologischen Unterschiede feststellen. Das war ein echter Kampf“, berichtet Assistant Professor Sandra Siegert. „Ein Vortrag der Mathematikerin Kathryn Hess im Rahmen der ISTA-Kolloquiumsserie inspirierte uns, die Topologie der Zellen zu untersuchen. Daraus entwickelte sich eine fruchtbare und inspirierende Zusammenarbeit über die Forschungsdisziplinen hinweg.“
Die algebraische Topologie analysiert die Eigenschaften von geometrischen Objekten. Die komplizierte baumartige Struktur der Zellen, die aus topologischer Sicht untersucht wird, enthüllt zuvor verborgene Informationen. „Wir waren wirklich schockiert, wie bemerkenswert dies funktionierte – wir haben gesehen, wie sich die Morphologie der Mikroglia für jede Hirnregion und jedes Geschlecht entfaltet und wie sie sich während einer Krankheit verändert!“
MorphOMICs ermöglichte es den Autor:innen, einen Atlas der Mikroglia-Morphologien zu erstellen. Eine bestimmte Form von Mikroglia ist ein Ort auf der Karte. Benachbarte Orte auf der Karte sind Mikroglia, die in ihrer Topologie ähnlich sind. Um dies zu verstehen, kann man sich Bäume vorstellen: Zwei Bäume mit unterschiedlichen Längen und Richtungen der Äste können die gleiche abstrakte Art der Verzweigung haben. Daher würden sie den gleichen Platz auf der Landkarte einnehmen. „Da Mikroglia sehr aktiv sind, konnten wir die Topologie nicht sofort anwenden. Wir mussten den statistischen Ansatz zunächst mit unserem Datensatz von mehr als 40 000 Mikrogliazellen validieren, und dann konnten wir Strategien des maschinellen Lernens einsetzen, um den Atlas zu visualisieren“, sagt Cubero, der einen Hintergrund in statistischer Physik mitbringt und für den datenwissenschaftlichen Teil des Projekts verantwortlich war. „Der Atlas zeigt alle möglichen Mikroglia-Topologien. Für das bloße Auge unsichtbar, sehen wir nun, dass bestimmte Gehirnregionen spezialisierte Mikroglia-Topologien aufweisen.
Geschlechtsabhängige Alzheimer-Krankheit
Nachdem die Methode etabliert war, wandten die Wissenschafter:innen sie an. Zusammen mit Kollaborateur:innen des Massachusetts Institute of Technology (MIT) arbeiteten sie mit Mäusen, die die Symptome der Alzheimer-Krankheit genetisch reproduzieren. „Interessanterweise zeigt der Entwicklungspfad der Alzheimer-Krankheit auffällige Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern. Weibliche Mikroglia springen viel schneller in einen extremen Zustand“, fasst Colombo zusammen. „Das deutet darauf hin, dass die Mikroglia-Morphologie bei Weibchen viel schneller auf diese Degeneration reagiert als bei Männchen.“
MorphOMICs kann die Lage der jeweiligen Mikroglia eines neuen Zustands auf der Karte abschätzen. Das Team wendete dies auf die bereits erwähnte Studie zur Ketamin-Narkose an und konnte seine früheren Erkenntnisse aktualisieren: Man geht davon aus, dass eine Vollnarkose ein vollständig reversibler Prozess ist, aber die Topologie der Mikroglia hat gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Die Morphologie der Mikroglia kehrt nicht in ihren Ausgangszustand zurück. „Was bedeutet das? Nun, den Mechanismus kennen wir noch nicht“, räumt Cubero ein, „aber dies ist nur ein Beispiel dafür, wie MorphOMICs wichtige Entdeckungen unterstützen.“
In weiteren Arbeiten will das Team klären, wie die Funktion der Mikroglia mit ihrer Morphologie zusammenhängt. Außerdem könnte die Methode auf alle Mikroglia ausgedehnt werden, was bedeutet, dass sie auf alle Spezies einschließlich des Menschen anwendbar ist. „Natürlich können die Ergebnisse aus Mäusegehirnen nicht 1:1 auf den Menschen übertragen werden, aber sie liefern erste wichtige Erkenntnisse darüber, wo man den Blick hinrichten sollte“, sagt Sandra Siegert.
Publikation:
Gloria Colombo, Ryan John A. Cubero, Lida Kanari, Alessandro Venturino, Rouven Schulz, Martina Scolamiero, Jens Agerberg, Hansruedi Mathys, Li-Huei Tsai, Wojciech Chacholski, Kathryn Hess, and Sandra Siegert. 2022. Microglial MorphOMICs unravel region- and sex-dependent morphological phenotypes from postnatal development to degeneration. Nature Neuroscience.
DOI: https://doi.org/10.1038/s41593-022-01167-6
Projektförderung:
Die Projektmitglieder am ISTA wurden durch das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 der Europäischen Union im Rahmen des Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmenprogramms Nr. 754411 und durch den Europäischen Forschungsrat (ERC) unter der Nummer 715571 unterstützt.
Information zu Tierversuchen:
Die Analyse der Mikroglia-Morphologie ist nur möglich, wenn man mit lebenden Tieren arbeitet, da sich die Mikroglia in ihrer genetischen, molekularen und funktionellen Signatur außerhalb ihrer Gehirnumgebung völlig verändert. Keine anderen Methoden, wie zum Beispiel in-silico-Modelle, können als Alternative dienen. Die Tiere werden gemäß der strengen in Österreich geltenden gesetzlichen Richtlinien aufgezogen, gehalten und behandelt. Alle tierexperimentellen Verfahren sind durch das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung genehmigt.