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13. November 2025

Nach Quanten-Narben greifen

ISTA-Physiker:innen lösen komplexe Quantenprobleme mit Hilfe der klassischen Physik

Quanten-Vielteilchen-Narben stellen unser Wissen in Frage, wann und wie Quantensysteme ein Gleichgewicht erreichen. Forscher:innen der Serbyn Gruppe am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) haben vor kurzem gezeigt, dass diese Quanten-Narben häufiger vorkommen als erwartet. Nun haben sie einen Algorithmus entwickelt, der ihnen hilft, diese mit klassischen Bewegungsgleichungen zu finden. Ihre Methode verbindet die klassische Physik mit der Quantentheorie und könnte Aufschluss über andere verborgene Quantenphänomene geben. Die Resultate wurden in PRX Quantum veröffentlicht.

Forscher:innen aus der Serbyn Gruppe und der Hof Gruppe haben einen Algorithmus entwickelt, um Quanten-Vielteilchen-Narben mithilfe klassischer Bewegungsgleichungen zu finden.
Klassische Lösungen für Quantenprobleme. Forscher:innen aus der Serbyn Gruppe und der Hof Gruppe haben einen Algorithmus entwickelt, um Quanten-Vielteilchen-Narben mithilfe klassischer Bewegungsgleichungen zu finden. © ISTA

Die Quantentheorie ist nach wie vor eine komplexe Wissenschaft. Ein Jahrhundert ihrer Forschung hat uns nur näher an die Erkenntnis gebracht, welche Herausforderungen sie mit sich bringt. Eine dieser Herausforderungen ist es, das Schicksal von Quanten-Vielteilchensystemen zu verstehen, die nicht im Gleichgewicht sind. Das heißt, was passiert nicht nur mit einem, sondern mit vielen interagierenden Quantenteilchen, die bei winzigen physikalischen Maßstäben in Dysbalance existieren.

Naiv betrachtet scheinen solche Systeme empfindlich und äußerst komplex zu sein. Wenn jedoch Chaos auftritt, kann dies die gesamte Komplexität auslöschen und eine einfache Beschreibung des Systems liefern. Wie können Wissenschafter:innen eine Theorie für solch komplexe Probleme aufstellen? Könnten sie verstehen, wie Chaos frühzeitig auftreten kann, während das Verhalten des Systems noch relativ einfach ist?

„Quantenprobleme sind schwer zu simulieren und zu lösen. Aber wir können Wege finden, um sie zu verstehen, indem wir Methoden aus klassischen Systemen anwenden“, erklärt Maksym Serbyn, Professor am Institute of Science and Technology Austria (ISTA). Zusammen mit der Doktorandin Elena Petrova, dem ehemaligen Postdoktoranden Marko Ljubotina und Gökhan Yalnız, einem kürzlich promovierten Doktoranden aus der Gruppe von ISTA-Professor Björn Hof, machte sich Serbyn daran, die Theorie seltsamer Quantenphänomene aus der Perspektive der klassischen Physik zu untersuchen.

Quanten-Narben: Schwer fassbare Ordnung inmitten des Chaos

Die Serbyn Gruppe interessiert sich besonders für das Phänomen der Quanten-Vielteilchen-Narben. Das ist ein kurioses Konzept, bei dem viele interagierende Teilchen Eigenschaften beibehalten, die mit der Zeit nicht ‚zerstreut‘ werden. Stattdessen scheinen diese Quantenteilchen von ihrer eigenen Vergangenheit ‚gezeichnet‘ zu sein und kehren regelmäßig in die Nähe ihres Ausgangszustands zurück. In unserer greifbaren Welt, wo Chaos herrscht, ist es genau umgekehrt – wir alle wissen nur zu gut, wie leicht es ist, einen aufgeräumten Raum zu verwüsten, der sich nie von selbst wieder aufräumt.

Der kürzlich promovierte Gökhan Yalnız, Professor Maksym Serbyn und die Erstautorin der Studie und ISTA-Doktorandin Elena Petrova.
ISTA-Physiker:innen auf der Suche nach Quanten-Narben. Von links nach rechts: der kürzlich promovierte Gökhan Yalnız, Professor Maksym Serbyn und die Erstautorin der Studie und ISTA-Doktorandin Elena Petrova. © ISTA

Eine kürzlich erschienene Publikation der Serbyn Gruppe zeigte, dass Quanten-Vielteilchen-Narben häufiger vorkommen als erwartet. Das Team argumentierte, dass diese Vielzahl von Quanten-Narben aufgrund ihrer erhöhten Komplexität wahrscheinlich übersehen worden sei. Daher stellten sich Petrova und ihre Kollegen der Herausforderung, einen Algorithmus zu entwickeln, um die schwer fassbaren Narben aufzudecken. Dazu griffen sie auf das „Variationsprinzip“ zurück, ein klassisches physikalisches Prinzip, das erstmals in den 1930er Jahren von Paul Dirac beschrieben wurde. Kurz gesagt, sie projizierten das Quantenproblem auf ein klassisches dynamisches System und nutzten klassische Gleichungen, um Einblicke zu gewinnen.

Insbesondere der Begriff der „klassischen periodischen Bahnen“ ermöglichte dem Team, eine ‚Brücke‘ zwischen der klassischen und der Quantenwelt zu schlagen. „Periodische Bahnen werden in der klassischen Physik ziemlich gut verstanden, und Forschende beschreiben sowohl chaotische als auch nicht-chaotische Systeme anhand einer Sammlung ihrer periodischen Bahnen. In der Quantenwissenschaft ist der Begriff der periodischen Trajektorien jedoch noch fremd“, so Serbyn. „Quantentheorie und klassische Physik funktionieren sehr unterschiedlich. Wir konnten die beiden jedoch miteinander verbinden, indem wir die klassischen periodischen Trajektorien verwendeten, die wir durch die Projektion der Quantensysteme erhalten hatten.“

Die Theorie seltsamer Quantenphänomene aus der Perspektive der klassischen Physik. Von links nach rechts: Erstautorin und Doktorandin Elena Petrova, PhD-Absolvent Gökhan Yalnız und Professor Maksym Serbyn.
Die Theorie seltsamer Quantenphänomene aus der Perspektive der klassischen Physik. Von links nach rechts: Erstautorin und Doktorandin Elena Petrova, PhD-Absolvent Gökhan Yalnız und Professor Maksym Serbyn. © ISTA

„Wie eine Abfolge von Bildern mit immer höherer Auflösung“

Serbyn vergleicht den Ansatz mit der Beobachtung eines komplexen 3D-Objekts unter einem Mikroskop mit einer Vielzahl von Linsen in zunehmender Vergrößerung. Unter der ersten „Linse“ sieht man ein relativ einfaches klassisches System, das aus einer zu starken Vereinfachung und Verzerrung der Projektion des Quantenproblems resultiert. Die Bildqualität kann verbessert werden, indem man zu einer komplexeren Projektion wechselt, als würde man das Objekt mit weniger verzerrenden Linsen untersuchen. Dies führt jedoch zu immer komplexeren Bildern.

„Es ist, als würde man eine Bildsequenz mit immer höherer Auflösung erzeugen, wodurch wir immer mehr Informationen aus dem Quantensystem gewinnen können“, erklärt Serbyn. „Letztendlich bleibt die größte Herausforderung, zu wissen, wann wir die Linsenstärke nicht weiter erhöhen sollten, damit die Komplexität begrenzt bleibt und wir dennoch Informationen über das Quantensystem gewinnen können.“

Vom Auffinden von Narben bis hin zu anderen speziellen Quantenzuständen

Zunächst war sich Serbyn nicht sicher, ob dieser Ansatz funktionieren würde. Als Petrova jedoch seiner Gruppe beitrat, um diese Frage in ihrer Doktorarbeit zu untersuchen, argumentierte sie bald, dass es sich lohnt, ein allgemeines Werkzeug zu entwickeln. Dieses Werkzeug sollte ein ‚Mikroskop mit mehreren Linsen‘ sein, um nach klassischen Bahnen zu suchen. Mithilfe von Ljubotina und Yalnız entwickelte sie also einen allgemeinen Algorithmus, mit dem sie verschiedene Projektionen desselben Quantensystems systematisch untersuchen konnte.

„Wenn man ein komplexes Quanten-Vielteilchen-Problem betrachtet, ist der Raum, in dem die Dynamik stattfindet, so beeindruckend groß, dass man vielleicht nicht weiß, wo man zuerst suchen soll“, sagt Petrova. „Aber mit unserer Methode können wir anfangen, ‚heranzuzoomen‘ und eine gewisse Einfachheit zu finden, die uns helfen kann, das System besser zu verstehen.“

Petrovas Algorithmus kann nicht nur versteckte Quanten-Vielteilchen-Narben aufspüren, sondern auch andere interessante Quantenzustände, die noch weniger intuitiv sind. Dazu könnten Floquet-Systeme gehören – periodisch angeregte Quantensysteme wie Pendel oder Schwingkreise. „Bei der Wechselwirkung ist zu erwarten, dass sich solche Systeme aus den allgemeinen Anfangszuständen heraus erwärmen. Wenn es jedoch Zustände gibt, die eine Erwärmung vermeiden, könnte unsere Methode diese finden“, erklärt Petrova. Darüber hinaus könnte der Algorithmus neue Pendants bekannter klassischer Phänomene in der Quantenwelt identifizieren.

Forscher:innen aus der Serbyn Gruppe und der Hof Gruppe arbeiten gemeinsam an weit voneinander entfernten Bereichen der Physik, die nicht dieselbe Sprache sprechen.
Forscher:innen aus der Serbyn Gruppe und der Hof Gruppe arbeiten gemeinsam an weit voneinander entfernten Bereichen der Physik, die nicht dieselbe Sprache sprechen. © ISTA

Brücken zwischen Disziplinen

Die vorliegende Arbeit ist ein Beispiel für die wissenschaftliche Zusammenarbeit, die durch das multidisziplinäre Forschungsumfeld am ISTA ermöglicht wird. „Als Quantentheoretiker:innen profitierten wir sehr von der räumlichen Nähe zur Gruppe vom Experimentalphysiker Björn Hof, der sich mit Turbulenzen und nicht linearer Dynamik befasst und dessen Fachgebiet unter anderem klassische periodische Trajektorien umfasst. Wir arbeiten praktisch auf derselben Etage und sind über eine Brücke verbunden“, sagt Serbyn.

Yalnız leistete während seiner Rotation in der Serbyn Gruppe zu Beginn seiner Doktorandenzeit einen wesentlichen Beitrag zur ersten Analyse aus der klassischen Perspektive. „Die Idee brauchte Zeit, um sich zu entfalten, und Elenas Beharrlichkeit trug dazu bei, sie zu verwirklichen. Unsere Arbeit veranschaulicht aber auch den Dialog und die solide Zusammenarbeit zwischen klassischen Physiker:innen und Quantentheoretiker:innen, da Gökhans Erkenntnisse und Intuition für klassische Systeme wirklich hilfreich waren“, fasst Serbyn zusammen.

Elena Petrova, Erstautorin der Studie und Doktorandin am ISTA.
Elena Petrova, Erstautorin der Studie und Doktorandin am ISTA. © ISTA

Die Gruppen von Serbyn und Hof haben die Brücke überquert, die ihre Labore am ISTA verbindet, und damit symbolisch den Sprung in ihre Zusammenarbeit gewagt. Diese Brücke ist nun ein Zeichen für die Zusammenkunft weit entfernter Bereiche der Physik, die normalerweise nicht dieselbe Sprache sprechen.

Publikation: Elena Petrova, Marko Ljubotina, Gökhan Yalnız, and Maksym Serbyn. 2025. Finding periodic orbits in projected quantum many-body dynamics. PRX Quantum. DOI: 10.1103/tldp-kvkd



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