13. Mai 2016
Neurowissenschaftler entdecken neue Lernregel für die Vervollständigung von Mustern
IST Austria Professor Peter Jonas und Team identifizieren neue Lernregel | Studie in Nature Communications veröffentlicht
„Fire together, wire together” lautet die berühmte Kurzfassung der Hebb’schen Lernregel. Sie besagt, dass sich Nervenzellen im Gehirn bei Lernprozessen anpassen; ein Vorgang, der auch unter dem Begriff neuronale Plastizität bekannt ist. Hebb’s Theorie stammt aus den 1940er Jahren und wurde seither von NeurowissenschaftlerInnen weiter untermauert. Dank hochmoderner Methoden, die mit größter Präzision selbst subzelluläre Vorgänge zugänglich machen können, ist heute bekannt, dass unterschiedliche Faktoren eine wichtige Rolle spielen. Dazu gehören etwa der zeitliche Ablauf von Erregungsimpulsen, die Reihenfolge der neuronalen Aktivität oder die jeweilige Funktion eines Schaltkreises.
Jüngst haben Wissenschaftler des Institute of Science and Technology Austria (IST Austria) eine neue Lernregel für eine spezielle Art von exzitatorischen Synapsen im Hippocampus identifiziert. Nun wurde ihre Studie am 13. Mai in der renommierten Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht. Die untersuchten Synapsen befinden sich in der sogenannten CA3-Region des Hippocampus, die eine wesentliche Funktion für die Speicherung und den Abruf von räumlichen Informationen innerhalb des Gehirns besitzt. Eine Besonderheit ist dabei ihre Fähigkeit, aus unvollständigen Informationen eine Erinnerung wiederherzustellen. Damit gelingt es dem Netzwerk, neuronale Aktivitätsmuster wieder zu vervollständigen.
Professor Peter Jonas und sein Team, darunter Postdoc José Guzmán und PhD-Student Rajiv Mishra, untersuchten die Regulierung der Verbindungsstärke der Nervenzellen, und zwar unter Berücksichtigung der relativen Zeitabstände der neuronalen Aktivität. In der Neurowissenschaft ist diese Art der Plastizität als spike-timing-dependent plasticity oder STDP bekannt. Diese STDP-Regel besagt, dass ein Neuron A kurz vor Neuron B ein Signal übertragen muss, damit die Verbindung zwischen ihren Synapsen verstärkt wird. Der umgekehrte Fall, also wenn B vor A aktiv wird, kann zu einer Abschwächung der Verbindung führen.
Die Experimente des Teams von Professor Jonas ergaben jedoch, scheinbar im Gegensatz zu dieser Theorie, dass bei den von ihnen untersuchten Synapsen (CA3–CA3 rekurrente exzitatorische Synapsen) die umgekehrte Reihenfolge ebenfalls zu einer Verstärkung führt. Überraschenderweise findet demnach in jedem Fall eine Potenzierung statt. Wie kommt es aber dazu, dass die Reihenfolge bei diesen speziellen Synapsen keine Rolle spielt?
Um diese Frage zu beantworten, führten die Autoren Messungen mittels modernster Methoden durch, die eine außergewöhnliche Präzision ermöglichen. Darunter waren die Patch-Clamp-Technik zur Kontrolle der Neuronenaktivität, Imaging von Kalzium-Molekülen (die eine wichtige Rolle für die synaptische Plastizität spielen) und subzellulläre Messungen der elektrischen Signale in den Dendriten. Alle Daten ergaben dieselben symmetrischen Summenkurven. Daher ist die ungewöhnliche Induktionsregel auf die Eigenschaften der Kalziumsignale zurückzuführen, die sich wiederum durch die Merkmale der elektrischen Signale in den Dendriten erklären lässt.
Anschließend überprüften die Wissenschaftler, was passiert, wenn eine große Anzahl von Neuronen gleichzeitig über exzitatorische Synapsen in einem Netzwerkmodel aktiviert wird. Zu diesem Zweck führten sie Computersimulationen durch, indem sie verschiedene Induktionsregeln einspeisten. Sie verglichen die Ergebnisse der Simulationen auf Basis der neuen Lernregel mit jenen des traditionellen Modells. Das Resultat zeigte eindeutig, dass Muster aus einzelnen Informationen besser wiederhergestellt werden konnten, wenn die symmetrische Lernregel angewendet wurde. Professor Jonas dazu: „Die neue Lernregel könnte erklären, warum es bei ‚in vivo‘-Versuchen zu stabilen Lernvorgängen bei einer Vielzahl von Verhaltensbedingungen kommt. Beispielsweise könnte sie die Speicherung und den Abruf von Zellanordnungsmustern bei sich in freier Umgebung bewegenden Tieren erklären, wie bereits von systemischen NeurowissenschaftlerInnen am IST Austria festgestellt worden war (O’Neill et al., 2008).“
Die neuen Daten scheinen im Gegensatz zur klassischen STDP-Lernregel anderer glutamaterger Synapsen zu stehen. Verletzen sie damit die Hebb’sche Lernregel? Professor Jonas: „Wenn man den klassischen Text von Hebb sorgfältig liest, besagt er folgendes: ‚Wenn das Axon von Zelle A nahe genug an Zelle B ist, um sie anzuregen […], so wird die Effizienz von A als einer der Zellen, die B feuern, verstärkt.‘ Eine Abschwächung wird hier jedoch nicht erwähnt. Aus diesem Grund verletzten die neuen Daten nicht das Postulat von Hebb, sondern könnten es sogar in seinem ursprünglichen Sinn bestätigen.