14. März 2013
Unterschiedliche Sichtweisen
Zwei aktuelle Publikationen von IST Austria Professor Gašper Tkačik über das visuelle System ermöglichen spannende Einsichten in die Sinnesverarbeitung der Retina
Nicht nur Schönheit, sondern auch Realität entsteht im Auge des Betrachters – so zwei aktuellen Publikationen von Gašper Tkačik, Professor am Institute of Science and Technology Austria (IST Austria), und Kollegen zufolge. Zwei sehr ähnliche visuelle Szenen können sehr unterschiedlich wahrgenommen werden, erst von der Retina und dann vom Gehirn. Tkačik entwickelte gemeinsam mit Einat Granot-Atedgi, Ronen Segev und Elad Schneidman, Partnern vom Weizmann Institute of Science und der Ben Gurion Universität, ein theoretisches Werkzeug das ihnen erlaubt, den Unterschied zwischen scheinbar sehr ähnlichen visuellen Szenen zu definieren. Das eröffnet spannende Möglichkeiten für die Erforschung von Sinnessystemen.
Das Auge ist unser visuelles Tor zur Welt. Wenn wir eine Szene betrachten, werden die Lichtsignale, die an unser Auge dringen, in eine Sequenz von Nervenimpulsen umgewandelt, die über den optischen Nerv an das Gehirn gesandt werden. Alles, was das Auge nicht durch den optischen Nerv sendet, kann vom Gehirn nicht wahrgenommen werden und existiert daher für das Gehirn nicht.
Die Retina ist das erste Nervengewebe, das visuelle Eindrücke in für das Gehirn erkennbare Aktionspotentiale umwandelt. Lange galt, dass dieser Vorgang der Funktionsweise einer elektronischen Kamera gleicht: Jedes Neuron wäre dementsprechend dafür verantwortlich, einen bestimmten Punkt im visuellen Feld zu kodieren und dem Gehirn über die Lichtintensität dieses Punktes zu berichten. Diese Sichtweise wurde in den letzten Jahren in Frage gestellt. Zum Beispiel wurde die überraschende Beobachtung gemacht, dass – anders als in einer Kamera – die Punkte im visuellen Feld nicht eins-zu-eins mit Neuronen der Retina übereinstimmen. Stattdessen wird jeder Punkt durch die Aktivität von mehreren Neuronen kodiert.
Die Wissenschaftler fragten sich, was der Zweck dieser Über-Repräsentaton sei: Dient sie etwa dazu, die Unzuverlässigkeit von einzelnen Neuronen wettzumachen? Oder berichten verschiedene Neuronen über verschiedene Eigenschaften in der visuellen Szene? Da ja Neuronen miteinander verbunden sind, agieren jene Neuronen, die einen einzigen Punkt des visuellen Feldes kodieren, nicht unabhängig voneinander. sondern interagieren durch ein kombinatorisches Set an Aktivitätsmustern. Es gleicht der Entschlüsselung eines Codes, diese Muster der Repräsentation visueller Information zu verstehen.
In ihrer Publikation „Stimulus-dependent maximum entropy models of neural population codes“, die in der März-Ausgabe 2013 von PLoS Computational Biology erschien, zeichneten Gašper Tkačik und seine Partner den Output von circa 100 Retinaneuronen gleichzeitig auf. Sie entwickelten dann ein neues mathematisches Modell, um den „Code“ zu analysieren den diese Neuronen an das Gehirn senden, während sie einer kontrollierten visuellen Stimulation ausgesetzt sind. Auf diese Weise konnten die Forscher verfolgen, was die Neuronen übertragen und was nicht.
Diese Entwicklung legte den Grundstein für ihre Publikation „Retinal metric: a stimulus distance measure derived from population neural responses“, erschienen in Physics Review Letters 110, 058104 (28. Jänner). Hier war es ihr Ziel herauszufinden, welche visuellen Inputs vom Gehirn unterschieden werden können, und wie gut diese Unterscheidung funktioniert. Mathematisch gesehen führte das die Forscher zur folgenden Frage: Wenn wir zwei Bilder nehmen, wie können wir den Unterschied zwischen diesen beiden Bildern präzise definieren? Es gibt viele mögliche mathematische Definitionen dieses Unterschieds, zum Beispiel indem die Variationen der Lichtintensität Pixel für Pixel betrachtet werden. Allerdings stimmen diese mathematischen Definitionen möglicherweise nicht damit überein, wie das Gehirn die beiden Bilder empfindet. Da die Retina wie ein Filter funktioniert und nur Teile der Information überträgt, können Bilder, die nach einer bestimmten Definition mathematisch sehr unterschiedlich sind, vom Gehirn tatsächlich als sehr ähnlich empfunden werden. Andererseits können Bilder, die mathematisch gesehen sehr ähnlich sind, vom Gehirn besonders gut unterschieden werden. Dies geschieht möglicherweise aufgrund einer erhöhten Sensitivität der Retina gegenüber bestimmten Bildeigenschaften, unter Umständen solchen die für unser Verhalten instinktiv wichtig sind.
Gašper Tkačik und seine Partner wollten daher eine Definition von Ähnlichkeit und Unterschied finden, die biologisch relevant für die Retina und die Wahrnehmung durch das Gehirn ist. In ihrer in Physics Review Letters publizierten Arbeit präsentierten sie der Retina von Salamandern Bildpaare als Stimulus und analysierten die Antwort einer großen Zahl an Neuronen auf diesen Stimulus. Die Wissenschaftler führen eine neue Definition von Stimulus-Unterschied ein, indem sie diese als den Unterschied in der neuronalen Antwort, die die Stimuli hervorrufen, definieren. Tkacik und seine Kollegen zeigen, dass Gruppen von retinalen Ganglionzellen gemeinsam nur bestimmten Eigenschaften des Stimulus gegenüber empfindlich sind. Während diese Empfindlichkeit gegenüber Eigenschaften zuvor nur für einzelne Neuronen dokumentiert war, war nicht bekannt wie empfindlich ganze Gruppen von Neuronen bei der Kodierung von visuellem Input reagieren. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen deutlich, dass manche Stimuli, die mathematisch sehr unterschiedlich sind, von der Retina nicht gut unterschieden werden können, während andere Paare mathematisch unterschiedlicher Stimuli verlässlich unterschiedliche und unterscheidbare neuronale Reaktionen hervorrufen.
Diese Arbeit ermöglicht ein allgemeineres Rahmenkonzept für das Untersuchen und Verstehen von Sinneseindrücken. Über den Machbarkeitsnachweis hinausgehend, der mit ihren beiden kürzlich erschienenen Publikationen erstellt wurde, entwickeln die Wissenschaftler neue Experimente, die vom Konzept der „retinalen Metrik“ geleitet werden. Diese neu entwickelten mathematischen Werkzeuge können auch bei anderen Sinnessystemen angewendet werden, insbesondere bei solchen, für die ein klares Konzept der Ähnlichkeit von Stimuli fehlt. Im olfaktorischen System zum Beispiel rufen zwei Chemikalien zwei unterschiedliche Gerüche hervor; allerdings gibt es keine Methode, den Unterschied zwischen zwei Molekülen zu definieren. Im Gegensatz dazu ist der Unterschied in der neuronalen Antwort auf die zwei Moleküle einfach zu definieren und zu messen. Unter Verwendung des Konzepts der Wissenschaftler sollte es daher möglich sein, den Unterschied zwischen Gerüchen und selbst Mischungen von Gerüchen zu definieren – ein Projekt, das die Forscher mit großem Interesse in Angriff nehmen.