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6. Juli 2021

Wie man ein Gehirn verjüngt

Wissenschafter_innen am IST Austria verjüngen Mäusegehirne mit Ketamin oder flackerndem Licht

Microglia (green) and Perineuronal Net (magenta). © IST Austria
Mikroglia (grün) und das perineuronale Netz (magenta). © IST Austria

In frühen Entwicklungsphasen kann das Gehirn die Verbindungen zwischen seinen Neuronen viel freier umgestalten als im erwachsenen Zustand. Ein Team von Forscher_innen um Professorin Sandra Siegert am Institute of Science and Technology (IST) Austria haben nun zwei Methoden entdeckt, um diese Plastizität wiederherzustellen: wiederholte Behandlung mit Ketamin und nichtinvasives 60-Hertz-Lichtflimmern. Die Zeitschrift Cell Reports hat nun ihre Ergebnisse veröffentlicht, die das Potenzial haben, ein auf den Menschen übertragbares therapeutisches Werkzeug zu werden.

Können Sie sich an den Duft der Blumen im Garten Ihrer Großmutter erinnern oder an die Melodie, die Ihr Opa immer gepfiffen hat? Manche Kindheitserinnerungen sind scheinbar fest im Gehirn verankert. Tatsächlich gibt es kritische Zeiträume, in denen das Gehirn tiefgreifende kognitive Routinen erlernt. Das perineuronale Netz ist die Struktur, die für die Speicherung dieser Erinnerungen verantwortlich ist.

Diese extrazelluläre Struktur umhüllt bestimmte Neuronen und stabilisiert dadurch bestehende Verbindungen – die Synapsen – zwischen ihnen und verhindert auch, dass sich neue bilden. Was aber, wenn man das perineuronale Netz entfernen und die Anpassungsfähigkeit eines jungen Gehirns wiederherstellen könnte? Die Neurowissenschafterin Sandra Siegert und ihre Forschungsgruppe am IST Austria veröffentlichten nun zwei vielversprechende Techniken, um dies zu erreichen.

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Fressende Mikrogliazellen. Zwei Mikrogliazellen (grün) mit den Teilen des perineuronalen Netzes (magenta) in ihrem Inneren, die sie gefressen haben. Dieses Verhalten wurde unter Kontrollbedingungen ohne Ketamin nicht beobachtet. © IST Austria

Ketamin-Narkose oder Blitzlichtgewitter

Alles begann vor vier Jahren, als die Forscher_innen am IST Austria feststellten, dass Mikrogliazellen in Mäusen sehr reaktiv werden, nachdem sie die Tiere mit dem Medikament Ketamin betäubt hatten. Mikroglia werden typischerweise als Immunzellen des Gehirns betrachtet. Neuere Studien haben jedoch gezeigt, dass sie auch mit den Neuronen direkt interagieren. Die reaktiven Mikroglia haben die Fähigkeit, Synapsen und sogar ganze Neuronen zu fressen, was häufig in den späten Phasen der Alzheimer-Krankheit auftritt.

„Die starke Reaktion der Mikroglia auf die Ketamin-Narkose hat uns überrascht“, erklärt Alessandro Venturino, Erstautor der Studie und Mitglied der Siegert Gruppe. „Aber wir haben keine Synapsen oder tote Neuronen verschwinden sehen. Wir haben uns daher gefragt, was die Mikroglia eigentlich fressen.“ Es stellte sich heraus, dass es das perineuronale Netz war, das die Verbindungen zwischen den Neuronen schützt und stabilisiert.

„Alessandro ist in mein Büro gekommen und hat mir erzählt, dass das perineuronale Netz verschwunden sei. Ich konnte es nicht glauben“, erinnert sich Siegert. Sie hatten Mäusen wiederholt Ketamin verabreicht, um sie zu betäuben. Ketamin ist ein wichtiges Medikament für die Chirurgie und seit kurzem auch für die Behandlung psychiatrischer Symptome zugelassen. „Nach nur drei Behandlungen konnten wir einen erheblichen Verlust des perineuronalen Netzes feststellen, der sieben Tage lang anhielt, bevor es wieder aufgebaut wurde.“

Als Siegert die Ergebnisse mit Mark Bear, einem der Neurowissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology (MIT), teilte, war dieser gleichermaßen erstaunt und fasziniert vom Potenzial dieser Entdeckung. „In der Biologie sieht man selten eine so klare schwarzweiße Situation“, so Siegert weiter. „Das Sahnehäubchen war jedoch der Effekt des 60-Hertz-Lichtflimmerns.“

Neuronen kommunizieren, indem sie sich gegenseitig elektrische Impulse zusenden. Diese sind koordiniert, sodass sie Wellen aus Signalen – sogenannte Hirnwelle – erzeugen. Diese Wellen können auch durch äußere Sinneseindrücke, zum Beispiel durch Licht, das in die Augen scheint, beeinflusst werden. „Es wurde bereits gezeigt, dass Licht, das 40 Mal pro Sekunde – also mit 40 Hertz – flackert, die Mikroglia dazu anregen kann, Plaques zu entfernen, die durch die Alzheimer-Krankheit entstehen. Aber das perineuronale Netz wurde davon nicht angegriffen“, erklärt Venturino. Als die Wissenschafter_innen dann aber Mäuse in eine Box setzten, in der das Licht 60 Mal pro Sekunde flackerte, hatte das einen ähnlichen Effekt wie die Ketamin-Behandlungen. „Diese Art der von genauer Abstimmung zwischen verschiedenen Hirnwellen und der Aktivität von Mikroglia ist besonders faszinierend und könnte ein neuer Zugang sein, um über Hirnwellen nachzudenken.“

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Eine Mikrogliazelle dringt in das perineuronale Netz ein. Eine Mikrogliazelle (grün) gräbt ein Loch in das perineuronale Netz (magenta). Dieses Verhalten wurde unter Kontrollbedingungen ohne Ketamin nicht beobachtet. © IST Austria

Gebotene Vorsicht und vielversprechende Möglichkeiten

Bisher etablierte Strategien zur Entfernung des perineuronalen Netzes sind langwierig und enorm invasiv. Die hochdosierte Ketaminbehandlung, aber noch mehr das 60-Hertz-Lichtflimmern, sind nur minimalinvasiv. Sie könnten daher neue Therapieansätze am Menschen eröffnen.

Ist die Blockade des perineuronalen Netzes im Gehirn erst einmal abgebaut, sind die Neuronen wieder empfänglich für neuen Input und neue Synapsen können gebildet werden. „Es ist aber nicht so, dass man einfach Ketamin einnimmt und dadurch klug wird“, betont Venturino. Indem man die Plastizität wiederherstellt, könnte man möglicherweise traumatische Erfahrungen überschreiben und posttraumatische Belastungsstörungen behandeln. „Aber wir sind sehr vorsichtig, denn in diesem prägenden Fenster könnte auch etwas Traumatisches passieren“, warnt Siegert. „Es ist wahrscheinlich auch keine gute Idee, sich selbst mit flackerndem Licht zu behandeln.“

Es gibt verschiedene Anwendungsmöglichkeiten für diese Behandlungen – eine davon ist die Amblyopie. Diese Sehstörung wird durch einen unausgewogenen visuellen Input während der kindlichen Entwicklung verursacht und führt unbehandelt zu einem dauerhaften Verlust des Sehvermögens. Ein weiteres Thema, dem die Forscher_innen nachgehen wollen, sind die molekularen Mechanismen, die hinter ihrer Entdeckung stehen und die noch nicht vollständig verstanden sind. Venturino bringt es auf den Punkt: „Es gibt noch eine Menge zu erforschen.“

Publikation

Venturino, Schulz, De Jesús-Cortés, Maes, Nagy, Reilly-Andújar, Colombo, Cubero, Schoot Uiterkamp, Bear, Siegert. 2021. Microglia enable mature perineuronal nets disassembly upon anesthetic ketamine exposure or 60-Hz light entrainment in the healthy brain. Cell Reports. https://doi.org/10.1016/j.celrep.2021.109313

Projektförderung

Der IST Austria Projektteil wurde durch ein DOC Fellowship der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Institute of Science and Technology Austria, durch das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 der Europäischen Union im Rahmen des Marie Skłodowska-Curie Actions Programms, den European Research Council, den National Eye Institute Grant und dessen Diversity Supplement unterstützt.

Information zu Tierversuchen

Zu verstehen, wie Mikroglia die Gehirnfunktion beeinflussen, ist nur möglich, indem man die Gehirne lebender Tiere untersucht, da Mikroglia außerhalb dieser Umgebung ihre genetische, molekulare und funktionelle Signatur völlig verändern. Keine anderen Methoden, wie zum Beispiel in-silico-Modelle, können als Alternative dienen. Die Tiere werden gemäß der strengen in Österreich geltenden gesetzlichen Richtlinien aufgezogen, gehalten und behandelt. Alle tierexperimentellen Verfahren sind durch das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung genehmigt.



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