23. April 2025
Auf der Spur der Quantennarben
Ein bizarres Quantenphänomen kommt häufiger vor als erwartet, zeigen ISTA-Physiker
Ein überraschendes Quantenphänomen, das dem Streben des Universums nach immer mehr Chaos entgegensteht, ist vielleicht doch nicht so exotisch. Bislang ging man davon aus, dass Quanten-Vielteilchen-Narben nur unter bestimmten experimentellen Bedingungen existieren. In einem theoretischen Rahmen zeigen Physiker am ISTA nun neue Formen von Quantennarben, die bisher wahrscheinlich aufgrund ihrer erhöhten Komplexität übersehen wurden. Die Ergebnisse, die jetzt in Physical Review Letters veröffentlicht wurden, könnten in Zukunft Anwendungen in der Quanteninformatik finden.

Ordnung ist vergänglich. Von der Expansion des Universums seit dem Urknall bis hin zu unseren mehr oder weniger aufgeräumten Wohnräumen – alles um uns herum wird grundsätzlich immer unordentlicher. So wird langfristig im Chaos ein Gleichgewicht erreicht. Würden wir beispielsweise eine Pressluftflasche, wie man sie vom Tauchen kennt, aufschneiden, würde sich das unter Druck stehende Gas schnell ausbreiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich spontan wieder in seiner unter Druck stehenden Form in der Sauerstoffflasche anordnet, ist praktisch null. Auch in der Quantenwissenschaft, wo ein System in einer Quantenüberlagerung mehrerer Zustände gleichzeitig existieren kann, wurde diese Zunahme des „Chaos“ als gegeben angenommen.
In einer 2017 in Nature veröffentlichten Studie lieferte jedoch ein Quantensimulator mit ultrakalten Atomen ein rätselhaftes Ergebnis: Anstatt mit zunehmendem Chaos ein Gleichgewicht zu erreichen, kehrte der Quantensimulator wiederholt in seinen geordneten Ausgangszustand zurück. Um die kontraintuitive Natur dieses Phänomens zu verdeutlichen, wurde es in einem Artikel des Quanta Magazine mit einem wiederholt schmelzenden und wieder gefrierenden Eis am Stiel verglichen. „Dieses als ‚Quanten-Vielteilchen-Narben‘ bekannte Phänomen bedeutet, dass eine Reihe ursprünglicher Quantenbedingungen über die Zeit bestehen bleiben, anstatt auseinanderzufallen“, erklärt der leitende Autor der Studie, Jean-Yves Desaules, Postdoktorand in der Gruppe von Maksym Serbyn am Institute of Science and Technology Austria (ISTA). Die neue Studie, die er zusammen mit dem ISTA-Doktoranden Aron Kerschbaumer und Serbyn durchgeführt hat, zeigt jedoch, dass diese Quantennarben viel häufiger vorkommen als ursprünglich angenommen. „Wir haben mehrere neue Verläufe von Quanten-Vielteilchen-Narben nachgewiesen, die wahrscheinlich aufgrund ihrer komplizierteren Strukturen viele Jahre lang übersehen wurden“, sagt Desaules. Anstatt sich unwiederbringlich zu vermischen, würden die neu beschriebenen Verläufe es ermöglichen, dass die Quanteninformation lokal und wiederherstellbar bleibt.

„Vernarbte“ Atome tragen Spuren der Vergangenheit
Um den in der Nature-Studie von 2017 beschriebenen Quantensimulator zu bilden, wurden 51 Rubidiumatome auf den Bruchteil eines Grades über dem absoluten Nullpunkt abgekühlt und mit Hilfe von Lasern – sogenannten optischen Pinzetten – in einer Reihe angeordnet. Rubidium ist ein in Quantensystemen beliebtes chemisches Element, das über ein einziges äußeres Valenz-Elektron verfügt, das in sehr hohe Energiezustände angeregt werden kann, wodurch das Atom eine für atomare Verhältnisse geradezu gigantische Größe erreichen kann. Durch die Anregung kalter Rubidiumatome können Physiker:innen Teilchen mit besonderen Eigenschaften erzeugen, zum Beispiel mit einer verstärkten Reaktion auf elektrische und magnetische Felder. Solche Teilchen, die als Rydberg-Atome bezeichnet werden, sind in der Quantenwissenschaft besonders nützlich.
Ausgehend von einer bestimmten Anfangskonfiguration zeigte dieser frühe Quantensimulator mit 51 „Qubits“ – den Grundbausteinen von Quantensystemen – ein seltsames Phänomen. Anstatt zu einem Gleichgewicht zu gelangen, indem sie sich in die unzähligen Möglichkeiten der Quantenzustände aufteilten, kehrten die Atome periodisch zu ihrer exakten ursprünglichen Quantenzustandskonfiguration zurück. Als wären sie „vernarbt“, schienen die Atome eine Spur der Vergangenheit zu tragen, die sie immer wieder in ihre ursprüngliche Konfiguration zurückzog. Dieses bizarre Verhalten wurde daher als „Quanten-Vielteilchen-Narben“ bezeichnet, wobei „Vielteilchen“ sich auf die mehreren wechselwirkenden Teilchen im Quantensystem bezieht.

Keine Informationsvermischung
Eine besondere Eigenschaft der Rydberg-Atome ist, dass ein angeregtes Atom andere Anregungen in seiner Umgebung verhindert – eine Eigenschaft, die als „Rydberg-Blockade“ bezeichnet wird. Dies ist auf den Abstand zwischen den optischen Pinzetten zurückzuführen, die auch als optische Gitter bezeichnet werden und die Qubits wie Perlen auf einer Schnur an ihrem Platz halten. Bislang wurden Quantennarben in Rydberg-Simulatoren beobachtet, wenn der Blockadeeffekt nur bis zu einem benachbarten Atom auf jeder Seite des angeregten Qubits reichte. Dies wird als ein Blockaderadius von eins definiert. Bis vor kurzem ging man davon aus, dass Quanten-Vielteilchen-Narben nur unter diesen präzisen Bedingungen auftreten und beispielsweise nicht, wenn der Blockadeeffekt zwei oder mehr Atome auf jeder Seite des angeregten Qubits umfasst. „In unserer Arbeit zeigen wir, dass ein Blockaderadius von eins nicht der Ausnahmefall ist, unter dem Quantennarben auftreten können, sondern vielmehr die Norm“, sagt Desaules. Der Schlüssel, um diese zusätzlichen Narbenzustände freizuschalten, sei eine geringe Menge an ‚lokaler Verschränkung‘, ein Phänomen, durch das der Quantenzustand jedes Teilchens in einer Gruppe nicht unabhängig vom Zustand der anderen beschrieben werden kann. Serbyn fügt hinzu: „Mit den neuen vernarbten Zuständen wird die Quantenbahn nicht sofort durch Informationsvermischung unübersichtlich, sondern die Qubits können in lokal verschränkten Zuständen starten und neue ‚wiederherstellbare‘ Zustände erkunden, was bedeutet, dass die Quanteninformation lokal und abrufbar bleibt.“

Zukünftige Anwendungen in der Quanteninformatik?
Über die theoretische Quantenwissenschaft hinaus sind die besonderen Eigenschaften von Rydberg-Atomen potenziell interessant für die Quanteninformatik, ein Aspekt, den die ISTA-Physiker weiter untersuchen werden. Indem sie nun zeigten, dass Quantennarben viel häufiger vorkommen als bisher angenommen, demonstrierten sie, dass die Narbenbildung ein leistungsfähiges Werkzeug für den Umgang mit Quanteninformationen ist. „Quanten-Vielteilchen-Narben ermöglichen es uns, mit geringem Aufwand komplizierte Quantenzustände zu erzeugen, die sich für Quantenalgorithmen als nützlich erweisen könnten“, sagt Kerschbaumer. „In dieser Hinsicht könnten Quantennarben eine wichtige Ressource für die zukünftige Quantenberechnung sein.“ Kerschbaumer begann dieses Projekt während seiner ersten Rotation als ISTA-Doktorand in der Serbyn Gruppe, bevor er die erforderlichen Rotationen in anderen Gruppen absolvierte. Während dieser Zeit festigte Desaules die Theorie. Nachdem Kerschbaumer sich der Serbyn Gruppe angeschlossen hat, führte er die numerischen Simulationen mit Hilfe des damaligen ISTA-Postdocs Marko Ljubotina fort. Während die aktuelle Studie Quantennarben in einer Dimension untersucht – einer linearen Anordnung von Rydberg-Atomen oder Qubits –, möchte das Team seine Analyse auf Atome in 2D-Gittern ausweiten. „Die Untersuchung höherer Dimensionen wird das System wesentlich komplexer machen – und damit analytisch und numerisch schwieriger zu behandeln“, sagt Kerschbaumer. „Aber genau das ist unser nächstes Ziel.“

Publikation:
Aron Kerschbaumer, Marko Ljubotina, Maksym Serbyn, and Jean-Yves Desaules. 2025. Quantum Many-Body Scars beyond the PXP model in Rydberg simulators. Physical Review Letters. DOI: 10.1103/PhysRevLett.134.160401
Projektförderung:
Dieses Projekt wurde durch Mittel aus dem Europäischen Forschungsrat (ERC) im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms „Horizon 2020“ der Europäischen Union (Fördervereinbarung Nr. 850899) und aus dem Forschungs- und Innovationsprogramm „Horizon 2020“ der Europäischen Union im Rahmen der Marie-Skłodowska-Curie Maßnahmen (Fördervereinbarung Nr. 101034413) finanziert.