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18. November 2021

Wie Zellen Kurven spüren

Wissenschafter_innen finden einen Mechanismus, der es Zellen ermöglicht, die Krümmung des sie umgebenden Gewebes zu erkennen.

Curvature of cells in intestines. The curved tissue of the intestine walls maximizes the surface for the absorption of nutrients. © IST Austria
Curvature of cells in intestines. The curved tissue of the intestine walls maximizes the surface for the absorption of nutrients. © IST Austria

Zellen in Ihrem Körper können nicht sehen, aber sie können ihre Umgebung und ihre eigene Form spüren. Wissenschafter_innen der Universität Mons und des Institute of Science and Technology (IST) Austria zeigten nun sowohl experimentell als auch theoretisch, wie Zellen die Krümmung des  sie umgebenden Gewebes wahrnehmen können und wie dies ihr Innenleben beeinflusst. Die Studie wurde in Nature Physics veröffentlicht.

Gekrümmte Oberflächen finden sich überall in biologischen Geweben. Sie sorgen zum Beispiel für die vergrößerten Oberflächen, die für die Aufnahme von Nährstoffen im Darm oder für den Gasaustausch in der Lunge notwendig sind. Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass Zellen erkennen können, ob sie sich in einer flachen oder gekrümmten Umgebung befinden. Diese dreidimensionale Krümmung kann sich auf viele Prozesse auswirken, etwa auf die Bewegung von Zellen, die Entwicklung von Stammzellen und sogar auf den Verlauf von Krankheiten. Die zugrundeliegenden Mechanismen mit denen Zellen die Krümmung wahrnehmen sind jedoch weniger klar; auch wie dies letztlich ihr Verhalten bestimmt.

Nun hat eine in Nature Physics veröffentlichte Studie unter der Leitung von Doktorandin Marine Luciano und Professor Sylvain Gabriele von der Universität Mons in Belgien in Zusammenarbeit mit Postdoc Shi-Lei Xue und Professor Edouard Hannezo am IST Austria neue Erkenntnisse zutage gefördert. Sie fanden die Mechanismen, die das Verhalten der Zellen abhängig von der Krümmung ihrer Umgebung steuern.

Gabrieles Team reproduzierte die in lebenden Geweben beobachteten Krümmungen auf sehr kontrollierte Weise. Es entwickelte eine Methode, um Zellen auf gekrümmten Oberflächen aus weichen Hydrogelen zu züchten. Hydrogele bestehen aus langen Molekülketten, die Wasser zwischen sich speichern. Diese Herangehensweise vereinfachte das komplizierte Problem, die Auswirkungen der Krümmung in komplexen lebenden Geweben klar zu beobachten. Solche Gewebe haben viele Rückkopplungsschleifen, die ihre Entwicklung steuern und es schwierig machen, Ursache und Wirkung zu unterscheiden. Die speziell konstruierten Oberflächen haben Täler und Berge in der Größenordnung von einem Hundertstel bis zu einem Zehntel eines Millimeters. Die Experimente zeigten, dass die gezüchteten Zellen dazu neigen, sich auf den Gipfeln dünn auszubreiten und in den Tälern zu sammeln.

Am IST Austria entwickelten Xue und Hannezo das wichtige theoretische Modell dazu. Es erklärt die experimentellen Resultate mit dem einfachen physikalischen Prinzip der Energieminimierung und ist von der Physik des Schaums inspiriert. Die Wissenschafter_innen fanden heraus, wie die Krümmung sowohl die Verteilung als auch Form und Dichte der Zellen auf der Oberfläche beeinflusst. Bereits bekannt war, dass Zellen die Dichte anderer Zellen um sie herum wahrnehmen können und dass dies ihre biochemische Maschinerie steuert. Dadurch werden biochemische Stoffe wie die Yes-associated Proteine (YAP) – Schlüsselmarker für Stammzellen – von der Krümmung beeinflusst.

Die Studie zeigt, wie die Krümmungswahrnehmung verschiedene Prozesse in der Zellentwicklung beeinflusst. Diese Art von interdisziplinärer Arbeit zwischen physikalischer Chemie, Zellbiologie und theoretischer Physik gibt Einblicke in einen zellulären Mechanismus, der bisher nur wenig verstanden wurde.

Publikation

M. Luciano, S.L. Xue, W.H. De Vos, L. Redondo Morata, M. Surin, F. Lafont, E. Hannezo and S. Gabriele. 2021. Large-scale curvature sensing by epithelial monolayers depends on active cell mechanics and nuclear mechanoadaptation. Nature Physics. DOI: 10.1038/s41567-021-01374-1

Projektförderung

Dieses Projekt wurde teilweise durch das FEDER-Prostem-Forschungsprojekt Nr. 1510614 (Wallonie DG06), das F.R.S.-FNRS Epiforce-Projekt Nr. T.0092.21 und das Projekt Interreg MAT(T)ISSE, das von Interreg France-Wallonie-Vlaanderen (Fonds Européen de Développement Régional, FEDER-ERDF), der Agence National de la Recherche (ANR) im Rahmen des Programms „Investments d’Avenir“ (I-SITE ULNE / ANR-16-IDEX-0004 ULNE), dem FWO Grant number G005819N, dem FRIA (F.R. 566 S.- FNRS), der Fonds für wissenschaftliche Forschung (F.R.S.-FNRS) und das Stipendium EOS Nr. 30650939 (PRECISION). Zusätzlich wurde die Arbeit vom Europäischen Forschungsrat im Rahmen des Horizon 2020 Research and Innovation Program Grant Agreements 851288 (für E.H.) und vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) (P 31639 für E.H.) finanziell unterstützt. Diese Arbeit wurde von ANR-10-EQPX-04-01 und FEDER 12001407 an F.L. unterstützt.



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